Personalmangel spitzt sich weiter zu
Zu wenig Gesundheitspersonal ist nicht nur in der Schweiz ein akutes Problem, sondern beschäftigt die Menschen global. Roswitha Koch, Leiterin Pflegeentwicklung und Internationales beim Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK), nimmt am SolidarMed-Podium «Wer pflegt uns morgen?» teil und ordnet vorab das Thema ein.
Roswitha Koch, spätestens seit der Covid-19-Pandemie ist der Fachkräftemangel im Gesundheitssektor in der Schweiz in aller Munde. Wie hat sich die Situation seither verändert?
Roswitha Koch: Noch nicht viel. Während der Pandemie gab es Phasen, in denen das Gesundheitspersonal sehr sichtbar und auch sehr geschätzt war. In Kombination mit der Zustimmung der Schweizer Bevölkerung zur Pflegeinitiative erhofften wir uns für die Zukunft klar verbesserte Arbeitsbedingungen und damit auch eine grössere Attraktivität der Gesundheitsberufe. Denn das Gesundheitswesen der Schweiz ist zunehmend auf Fachpersonen aus dem Ausland angewiesen. Die Schweiz bildet pro Jahr weniger als die Hälfte der rund 6000 benötigten Pflegefachpersonen selbst aus.
Nicht nur hier fehlt medizinisches Personal. Wie schätzen Sie die weltweite Situation ein?
Laut Schätzungen des Weltpflegeverbandes (ICN) fehlten vor der Covid-19-Pandemie weltweit bereits 30,9 Millionen Pflegefachpersonen. Dieser Mangel hat sich durch die Pandemie verschärft und spitzt sich aufgrund der Alterung der Gesellschaft und weil viele Fachkräfte nach der Pandemie den Beruf verlassen haben weiter zu.
Wieso ist es zu diesem Mangel an Personal gekommen?
Die Schweiz hat über viele Jahre zu wenig getan, um mittels attraktiver Arbeitsbedingungen genügend Gesundheitsfachpersonen im Beruf zu halten. Viele verlassen ihren Beruf nach wenigen Jahren. Um diese Abgänge zu kompensieren, müsste die Schweiz bedeutend mehr medizinische Fachleute ausbilden. Doch wegen Zugangsbeschränkungen zu den Studiengängen oder mangelnder Attraktivität der Berufe wird teilweise weit unter dem errechneten Bedarf ausgebildet.
Welche Auswirkungen hat der Fachkräftemangel zwischen den Ländern?
Der Mangel an Arbeitskräften im Gesundheitswesen ist ein weltweites Problem. Weil gerade ärmere Länder eine viel grössere Krankheitslast haben, brauchen sie eine umso bessere Gesundheitsversorgung. Leider sind oft die Gesundheitssysteme der wirtschaftlich schwächeren Länder unterfinanziert und ein grosser Teil der ausgebildeten Fachpersonen verlässt seine Heimat, um in reicheren Ländern mit höheren Löhnen und besseren Lebensbedingungen zu arbeiten. Als ein überdurchschnittlich reiches Land profitieren wir von den Fachpersonen aus den Nachbarländern und müssen meist keinen Ausgleich an die Herkunftsländer bezahlen.
Was muss die Schweiz tun, um den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen langfristig zu bekämpfen?
Mit der Pflegeinitiative hat die Schweiz ein umfangreiches Instrumentarium für die Verbesserung erhalten, und zwar auf Verfassungsebene. Für alle Gesundheitsberufe braucht es angemessene Arbeitsbedingungen und Entlöhnung, vergleichbar mit anderen Branchen, eine bedarfs-
gerechte Personalausstattung und Ausbildungsprogramme für die Nachwuchsförderung.

Bedauerlicherweise müssen wir mit einer Verschärfung der Krise rechnen.
Roswitha Koch, Leiterin Pflegeentwicklung beim SBK
Welche Massnahmen wären Ihrer Meinung nach im Süden erforderlich?
Die gleichen Massnahmen sind auch im Süden oder in ökonomisch schwächeren Ländern wirksam. Ausserdem erwarte ich, dass die «Nehmerländer» mit Ländern, die im grossen Stil für das Ausland ausbilden, entsprechende Kompensationsmechanismen aushandeln und diese finanzieren.
Gibt es aus Ihrer Sicht Hoffnung, dass sich die Situation in den nächsten Jahren verbessern könnte, oder befürchten Sie eine weitere Verschärfung der Krise?
Der Kodex der Weltgesundheitsorganisation für die grenzüberschreitende Rekrutierung von Gesundheitsfachkräften hat in mehr als zehn Jahren wenig bewirkt. Wegen der Covid-19-Pandemie, diverser wirtschaftlicher Probleme und dem generellen Fachkräftemangel hat sich die Situation klar verschärft – und dies trotz diverser Aktivitäten seitens der NGOs. Bedauerlicherweise müssen wir mit einer weiteren Verschärfung der Krise rechnen.
Diskutiere mit!
Am 22. Mai beleuchten wir in Zürich Ursachen und Lösungsansätze für den weltweiten Fachkräftemangel in der Gesundheitsbranche.