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24.07.2023

Die enormen Fortschritte gehen oft vergessen

Entwicklungsökonomin Isabel Günther forscht zu Armut, Ungleichheit und Bevölkerungsentwicklung auf dem afrikanischen Kontinent. Und stellt fest: Die positiven Entwicklungen auf dem afrikanischen Kontinent werden oft übersehen. Ein Gespräch über Fehlannahmen, Fortschritte und unseren Umgang mit Zahlen.

Ihrer Forschung zufolge verbinden die meisten Menschen hauptsächlich negative Dinge wie Armut, Hunger und Korruption mit Afrika. Ist das ein falsches Bild vom Kontinent?

Es ist nicht grundlegend falsch, denn extreme Armut ist nach wie vor eine Realität für Millionen von Menschen dieser Welt, und überdurchschnittlich viele davon leben in Afrika südlich der Sahara. Dennoch ist ein per se negatives Bild von «Afrika» in zweifacher Hinsicht falsch: Erstens ignoriert es die Grösse und Diversität des Kontinents, wo es neben den stereotypisierten Hütten auch modernste Städte und starkes Wirtschaftswachstum gibt. Zweitens gehen oftmals die enormen Fortschritte vergessen, die im Bereich Armutsbekämpfung, Gesundheit und Bildung schon erreicht wurden. Diesbezüglich haben die meisten Menschen ein veraltetes Bild im Kopf.

Negative Ereignisse finden mehr Beachtung als kontinuierliche Fortschritte, erklärte Günther.

Was sind die gängigsten Fehlannahmen in unseren Köpfen?

Bleiben wir bei der extremen Armut. Wir haben am NADEL letztes Jahr eine Umfrage mit rund 3'000 Menschen in der Schweiz durchgeführt. Knapp mehr als die Hälfte der Leute haben gesagt, sie würden sich gut oder sehr gut informiert fühlen zu globaler Ungleichheit. Dennoch wussten nur 13 % aller Befragten, dass sich weltweit die extreme Armut in den letzten 20 Jahren verringert hat. Und nochmals weniger Leute wussten, dass sie sich sogar halbiert hat. Die Mehrheit dachte, extreme Armut habe zugenommen. Das finde ich schon eindrücklich. Auf dem afrikanischen Kontinent ist die Reduktion zwar nicht so stark, aber auch da nahm die extreme Armut deutlich ab. Nur wissen das viele nicht.

«Ich wünsche mir eine stärkere Orientierung an den Fakten.»

Isabel Günther, Entwicklungsökonomin

Warum haben viele Leute ein zu negatives Bild der Welt?

Leider finden negative Ereignisse mehr Beachtung als kontinuierliche Fortschritte, auch in den Medien. Dort erzielen negative Schlagzeilen eine höhere Lese- bzw. Klickrate, weshalb gerade im Titel eine Thematik oft reisserisch und vereinfacht dargestellt wird. Mit der Zeit gewöhnen wir uns daran und erwarten nur noch Negatives. Zudem verallgemeinern wir oft, was wir hören, wir schliessen also vom Einzelfall aufs Ganze. Aber auch unser Umgang mit Zahlen beeinflusst unsere Wahrnehmung: Grosse Zahlen beeindrucken uns, und sie in Relation zu stellen wird oft vergessen. Wenn man zum Beispiel hört, dass durch Covid-19 im Jahr 2020 90 Millionen Menschen in die extreme Armut gedrängt wurden, klingt das nach unglaublich viel. Und das ist es auch, aber man sollte die Zahl dennoch in Relation setzen: Wie ändert das den Bevölkerungsanteil, der unter extremer Armut leidet? Wie sieht der generelle Trend aus? Dann sieht man, dass extreme Armut in den letzten 30 Jahren von 1,6 auf 0,8 Milliarden reduziert wurde – und ordnet die 90 Millionen anders ein.

Günthers Referat mit dem Titel «Sichtwechsel. Stimmt Ihr Afrikabild mit den Fakten überein?» im Neubad Luzern stiess auf reges Interesse.

Im Anschluss an das Referat beantwortete Günther Fragen aus dem Publikum.

Das Publikum nutzte die Gelegenheit, mehr über die Fakten zu den ökonomischen Entwicklungen auf dem afrikanischen Kontinent zu erfahren.

Wo sind Grenzen, wenn man gesellschaftliche Veränderungen mit Zahlen messen will?

Natürlich kann man nicht alle Entwicklungen gleich gut mit Zahlen ausdrücken. So ist beispielsweise der Erfolg von Bemühungen um Demokratie und Gleichberechtigung viel schwieriger zu messen als das Wirtschaftswachstum einer Gesellschaft. Spenderinnen und Spendern von Hilfswerken empfehle ich deshalb, darauf zu achten, wie transparent die Organisation über die Wirkung vor Ort spricht und ob sie auch mal Misserfolge zugibt.

Isabel Günther ist seit 2014 Professorin für Entwicklungsökonomie und akademische Direktorin des NADEL ­– Centre for Development and Cooperation der ETH Zürich. Sie forscht und lehrt im Bereich der empirischen Mikroökonomie, mit Fokus auf die Messung von Armut und Ungleichheit, Bevölkerungsökonomie, Technologien zur Armutsbekämpfung und evidenzbasierte Politikgestaltung. Isabel Günther hat Forschungen in Benin, Burkina Faso, Ghana, Kenia, Uganda und Südafrika durchgeführt. Im Anschluss an die Generalversammlung von SolidarMed am 25. Mai 2023 hielt sie ein Referat mit dem Titel «Sichtwechsel. Stimmt ihr Afrikabild mit den Fakten überein?».

Denken Sie, die Weltgemeinschaft wird es schaffen, extreme Armut zu beseitigen?

Wirtschaftlich ist es möglich, es ist eine Frage des politischen Willens. Ich möchte aber ein Vorurteil entkräften, das in diesem Zusammenhang immer wieder aufkommt; jenes des explosionsartigen Bevölkerungswachstums im Globalen Süden, das jegliche Bemühungen zur Armutsbekämpfung zunichte machen soll. Dazu gibt es zwei Punkte zu bedenken: Erstens nimmt das Bevölkerungswachstum seit den 1960er-Jahren global ab – auch in Afrika. Die Bevölkerung nimmt heute also deutlich langsamer zu als früher. Zweitens führt nicht das Bevölkerungswachstum im Globalen Süden zu einer ökologischen Übernutzung der Erde, sondern das Konsumverhalten im Globalen Norden, das die Klimakrise verursacht hat und somit auch riskiert, dass Fortschritte in der Armutsbekämpfung in den nächsten Jahren wieder zunichte gemacht werden. Auch hier gilt: Mir geht es nicht darum, Probleme zu relativieren, sondern ich wünsche mir einfach eine stärkere Orientierung an den Fakten. 

Rückblick 97. Generalversammlung

Am Donnerstag, 25. Mai 2023 hat die 97. Generalversammlung von SolidarMed mit anschliessendem Referat von Frau Prof. Dr. Isabel Günther stattgefunden.